Projekt "Westküste 100" - ein Beispiel
Nicht mehr die grundlegende Wissenschaft ist die Herausforderung, sondern die Hochskalierung der Technologie im industriellen Maßstab. So könnte man die Worte von Dr. Simon Pichlmeier, Projektleiter von „Westküste 100“, zusammenfassen. Und das ist das Ziel des Projektes: in einem Reallabor unter industriellen Bedingungen eine integrierte, großtechnische Wasserstoffwirtschaft aufzubauen. Das Projekt „Westküste 100“ nutzt zur regenerativen Herstellung von grünem Strom die vor der Küste Schleswig-Holsteins liegenden Offshore-Windparks. In einem ersten Schritt wird von einem 30 Megawatt-Elektrolyseur grüner Wasserstoff produziert. Der so erzeugte Wasserstoff wird dann in der Raffinerie Heide in verschiedenen Veredlungsschritten weiterverarbeitet. Dazu gehört u.a. eine Methanolsynthese und die Herstellung von synthetischem Kerosin für die Luftfahrt. Das für die Synthese benötigte Kohlenstoffdioxyd (CO2) kommt dabei von einem Zementwerk, dass zudem den bei der Elektrolyse entstehenden Sauerstoff für den Verbrennungsprozess nutzt.
Darüber hinaus wird die Abwärme des Elektrolyseprozesses für weitere Produktionsschritte genutzt. Es entsteht auch die erste Wasserstoff-Kaverne in Deutschland, um den produzierten Wasserstoff zwischenspeichern zu können. Im Projekt werden zudem Erfahrungen gesammelt mit der Versorgung (Infrastruktur) von Privathaushalten mit Wasserstoff für die Gebäudeheizung.
Insgesamt steht die „Sektorenkopplung“ als eines der Projektziele weit oben in der Prioritätenliste. Neben dem Hauptziel einer weitgehend CO2 freie Produktion von Strom, Wärme, chemischen Grundstoffen und Treibstoffen steht die Sektorenkopplung weit oben auf der Prioritätenliste. Denn durch die intelligente Nutzung der sich bietenden Möglichkeiten in den Sektoren Verkehr, Energieversorgung, Wärme und Industrie können Effizienzsteigerung und Einsparungspotentiale dazu beitragen, den Energiebedarf zu reduzieren statt zu steigern.
Die Projektpartner dieses vom BMWK mit 36 Millionen Euro geförderten Projekts sind Örsted (Windpark), Raffinerie Heide (Standort, Synthese), Holcim (Zement), OGE (Infrastruktur Gasleitung), Hynamics (Projektentwickler), Stadtwerke Heide, Thüga (Verbund kommunaler Energieversorger), ThyssenKrupp (Elektrolyseur); FH Westküste (ITE, Institut für die Transformation des Energiesystems) und die Entwicklungsagentur Region Heide.
Das Projekt „Westküste 100“ ist ein Baustein für den Hochlauf der Wasserstoff-Wirtschaft in Europa. Durch die aktive Förderung im Rahmen der nationale Wasserstoff-Strategie (NOW) sollen die üblichen Entwicklungzyklen in der Industrie durchbrochen werden. Zur Erreichung der Klimaziele ist eine erheblich schnellere Entwicklung und Transformation notwendig.
Im Moment sind die Herstellkosten für grünen Wasserstoff noch deutlich zu hoch, um mit konventionellen Energieträgern zu konkurrieren. Die Herstellung von Elektrolyseuren in der benötigten Leistungsklasse (100MW bis GW) ist extrem teuer bzw. wurde bislang noch gar nicht durchgeführt. Die passende Infrastruktur für Wasserstoff-Transport existiert derzeit nur innerhalb von größeren Industrieverbünden. Zudem ist die Möglichkeit der langfristigeren Speicherung (Saisonal-Speicher) bislang nicht vorhanden. Auch die zur Verfügung stehende Menge Strom für die Elektrolyse und die weitere Veredelung ist noch völlig unzureichend und der Weg hin zu einer auf internationalen Normen und Regelungen basierenden Sicherheit und Kompatibilität der Komponenten ist noch ein längerer.
Zu all diesen Herausforderungen trägt das Reallabor „Westküste 100“ wertvolle Erkenntnisse und Informationen bei. Denn nur in der Realität, im „Tun“ zeigen sich die zahllosen kleinen Stolpersteine, an die man bei einer theoretischen Betrachtung nicht denkt, sie nicht einmal kennen kann.
Vor diesem Hintergrund sind auch in anderen Bereichen zahlreiche Reallabore (z.B. das PEM an der RWTH Aachen oder das ZSW in Ulm), Start-Ups (z.B. E-Lyte aus Kaiserslautern) und Großfirmen (z.B. Schaeffler) dabei, durch eine Hochskalierung die deutsche und europäische Industrie wettbewerbsfähig zu halten. Denn dabei geht es vor allem um Ingenieursleistung in der Verfahrenstechnik, Automatisierung und Digitalisierung – und nicht mehr um Grundlagenforschung!
© Gerald Friederici, September 2023