Häufig befindet sich zwischen spannungsführenden Bauteilen nicht nur Luft als Isolator, sondern auch feste Isolierwerkstoffe: besonders Leiterbahnen auf Platinen sind über die Oberfläche dieser Isolierwerkstoffe miteinander verbunden. Diesen Oberflächen kommt als Grenzfläche eine besondere Bedeutung zu.
Während das Innere von (homogenen) Werkstoffen meist eine erheblich höhere Spannungsfestigkeit besitzen, ist deren Oberfläche zusätzlichen Belastungen ausgesetzt: Feuchtigkeit, Verschmutzung, chemische Substanzen wie Reinigungsmittel oder ggf. UV-Licht von Teilentladungen. Diese Belastungen führen - im Zusammenspiel mit hohen Spannungsdifferenzen - früher oder später zur Ausbildung von leitfähigen Pfaden (Kriechwegen, Tracking).
Die "Kriechstromfestigkeit" macht eine Aussage darüber, wie gut der Werkstoff dieser kombinierten Belastungen aus Spannungsdifferenz, Verschmutzung und Feuchtigkeit standhalten kann.
Bislang reichte in vielen Fällen der Test nach IEC 60112 bzw. UL 746A aus (tracking resistance test). Die Normen klassifizieren die verschiedenen Werkstoffe wie PET, PE, Polyimid oder PEEK in mehrere Klassen, auch als CTI- oder PLC-Wert (Prüfzahl, Vergleichszahl). Allerdings erlaubt die in der Norm verwendete Testanordnung nur Prüfspannungen bis 600 V (4 mm Elektrodenabstand). Darüber hinaus entsteht durch den recht geringen Prüfelektrodenabstand ein permanenter Überschlag, der keine auswertbaren Meßwerte mehr zulässt.
Zwischenzeitlich übersteigen Anwendungen aus dem Bereich der regenerativen Energie, aber auch in der Elektromobilität, diese Spannungsgrenze deutlich. Zwar deckt die Basisnorm IEC 60664 (Isolationskoordination) Spannungen bis 1000 VAC/1500 VDC ab. Wie hoch jedoch die Widerstandsfähigkeit von Werkstoffen gegenüber der Ausbildung von Kriechstromstrecken oberhalb 600 VAC ist, gibt es kaum.
Hier kommt der "Inclined-plane tracking Test (IPT)" ins Spiel (ASTM D2303, IEC 60587). Er ist aufgrund seiner Testauslegung (Elektrodenabstand 50 mm statt 4 mm) in der Lage, auch bei Spannungen bis zu 1500 VDC (Grenze der Niederspannungsrichtlinie) brauchbare Messergebnisse zu liefern.
Proben werden unter einem Winkel von 45° geneigt über Kopf eingespannt. Von der oberen Elektrode strömt dann eine Elektrolytlösung zur unteren Elektrode und simuliert damit die Umweltbelastung einer Isolatoren-Oberfläche unter Spannung. Ausfallkriterien sind entweder das Überschreiten eines maximal zulässigen Stroms (Detektion eines ausreichend leitenden Trackings), die Ausbildung eines Loches oder das Überschreiten einer Wegstrecke durch die Oberflächenerosion (Zerstörung des Isolators) und die Entzündung des Prüfkörpers.
Ursprünglich kommt dieser Test aus der Hochspannungstechnik bis 6 kV. Oberflächen von Stab- und Verbundisolatoren sind Regen und Luftverschmutzung ausgesetzt, müssen aber auch dann zuverlässig und dauerhaft der Ausbildung eines Kriechstromwege widerstehen.
Im Gegensatz zu Wechselspannungsanwendungen erfolgt bei Gleichspannung kein Spannungsdurchgang durch Null. Die permanent anliegende Spannung mit einer eindeutigen Richtung erfordert daher eine Anpassung der Spannungsniveaus bei DC, um vergleichsweise ähnliche Ergebnisse wie bei AC-Belastung zu erhalten. Diese betragen für die positive DC-Spannung 70% der AC-Spannung, bei negativer DC-Spannung sind es 90%. Man erkennt, dass bei Gleichspannung die immer gleiche Richtung des Ladungstransport zu weiteren Effekten bei der Zerstörung der Oberfläche führt.
Der IEEE-Leitfaden 2652-2021 (IEEE Guide for DC Inclined Plane Tracking and Erosion Test for Outdoor Insulation Applications) bietet dazu sehr brauchbare Hinweise
Um kurze Ladezeiten und vertretbare Komponentengewichte zu erreichen, werden Hochleistungs-DC-Ladestationen zukünftig verstärkt auch mit hohen Spannungen bis 1.500 VDC arbeiten. Da Ladesäulen meist im Aussenbereich aufgebaut werden, sind spannungsführende Bauteil potentiell der Ausbildung von Tau oder hoher Luftfeuchtigkeit ausgesetzt. Der Inclined-Plane Tracking Test kann helfen, die geeigneten Werkstoffe für eine solche Anwendung zu definieren.
Bedeutung für die Elektromobilität und Regenerative Energien
Beide Testverfahren, das nach IEC 60112 und der HV-Test nach IEC 60587, simulieren eine typische Belastung von polymeren Isolationswerkstoffen, die Umweltbedingungen ausgesetzt sind (Gegenteil: z.B. Vollverguss, Kapselung). Besonders bei Fahrzeugen und in Offenfeld-Anwendungen mit Spannungen über 600 V ist die Überprüfung der materialtechnischen Eignung ein wichtiger Sicherheitsaspekt. Gefahren wie Stromschlag, Brandgefahr oder Funktionsausfall im Betrieb können bei einer ungeeigneten Materialauswahl zu einem nicht vorherbestimmten Zeitpunkt plötzlich und ohne Vorwarnung auftreten. Beide Tests stellen sicher, dass die verwendeten Materialien den hohen Spannungen in EVs standhalten können, ohne dass es zu Kriechströmen und damit verbundenen Sicherheitsrisiken kommt.
© Gerald Friederici
IEC 60112, Verfahren zur Bestimmung der Prüfzahl und der Vergleichszahl der Kriechwegbildung von festen, isolierenden Werkstoffen
IEC 60587, Elektroisolierstoffe, die unter erschwerten Umgebungsbedingungen eingesetzt werden - Prüfverfahren zur Bestimmung der Beständigkeit gegen Kriechwegbildung und Erosion