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Zuverlässigkeit und Lebensdauer von Leistungselektronik: Elektrochemische Korrosion als kritischer Faktor bei steigenden Spannungen

Leistungselektronik-Systeme sind das Herzstück moderner Energieanwendungen, von der Elektromobilität über erneuerbare Energiesysteme bis hin zur industriellen Automatisierung und Stromversorgung von Rechenzentren. Die kontinuierliche Entwicklung zielt auf höhere Leistungsdichten, verbesserte Effizienz und reduzierte Kosten ab. Parallel dazu steigen die Anforderungen an die Zuverlässigkeit und Lebensdauer dieser Systeme signifikant. Während thermische und mechanische Belastungen traditionell im Fokus der Ausfallanalyse standen, gewinnt ein oft unterschätzter Mechanismus zunehmend an Bedeutung, insbesondere bei der Entwicklung hin zu höheren Spannungen und dem vermehrten Einsatz von Gleichspannung: die elektrochemische Korrosion.

Grundlagen der elektrochemischen Korrosion in Elektronik

Elektrochemische Korrosion in elektronischen Baugruppen ist ein Prozess, der das Vorhandensein von drei Schlüsselelementen erfordert:

  1. Eine Potentialdifferenz (eine angelegte Spannung).
  2. Ein Elektrolyt (typischerweise Feuchtigkeit oder Wasser, das durch ionische Verunreinigungen leitfähig gemacht wird).
  3. Ionenquelle (Metallionen von Leitern, Wärmeleit-Pads oder Bauteilen, oder externe ionische Kontamination wie Flussmittelrückstände, Salze, etc.).

Unter diesen Bedingungen können Metallionen von der positiven Elektrode (Anode) durch den Elektrolyten zur negativen Elektrode (Kathode) wandern und dort abgeschieden werden. Dies führt zur Bildung von leitfähigen Pfaden, was Kriechströme verursacht und letztendlich zum Kurzschluss und Ausfall der Komponente oder der gesamten Baugruppe führen kann.

Spezifische Korrosionsmechanismen

Mehrere elektrochemische Korrosionsmechanismen sind für den Ausfall von Leistungselektronik relevant:

  1. Elektrochemische Migration (ECM - Electrochemical Migration): Dies ist der bekannteste Mechanismus. Metallionen (oft Zinn, Blei, Silber, Kupfer) lösen sich von der Anode und wachsen in Form von feinen, baumartigen Strukturen (Dendriten) über die Oberfläche des Isolationsmaterials (z.B. Lötstopplack) oder durch Mikrorisse im Material zur Kathode hin. Bei Erreichen der Kathode oder einer ausreichenden Dichte der Dendriten entsteht ein niederohmiger Pfad, der zum Kurzschluss führt.
  2. Konduktive Anodische Filamente (CAF - Conductive Anodic Filaments): Im Gegensatz zu ECM, das hauptsächlich auf der Oberfläche stattfindet, ist CAF ein interner Migrationsprozess innerhalb des Substratmaterials (z.B. FR4-Leiterplattenmaterial). Ionen wandern entlang der Grenzflächen von Glasfasern und Harz im Laminat, oft begünstigt durch Mikrorisse oder Delaminationen, die durch Bohren oder mechanische Bearbeitung entstehen. Auch hier bilden sich leitfähige Pfade, die zu einem Kurzschluss zwischen benachbarten Lagen oder Leiterbahnen führen können.
  3. Anodische Metallansammlung (AMP - Anodic Metal Pileup): Dieser Mechanismus ist weniger ein Kurzschluss-Mechanismus als vielmehr eine Materialdegradation an der Anode. Unter bestimmten Bedingungen kann es zur lokalen Auflösung von Metall an der Anode und einer Ansammlung von Metalloxiden oder Hydroxiden kommen, was die elektrische Funktion beeinträchtigen kann. Dieser Mechanismus wird oft im Zusammenhang mit selektiven Beschichtungs- oder Oberflächenbehandlungsprozessen diskutiert.

Die verschärfte Problematik bei hohen Spannungen und Feldstärken

Die zunehmende Forderung nach höheren Spannungen in Leistungselektronik-Anwendungen (z.B. 800V...1250V in der E-Mobilität, bis 1.500 VDC in Solaranlagen) verschärft die Gefahr elektrochemischer Korrosion drastisch.

Die elektrische Feldstärke E zwischen zwei Punkten mit der Spannung V und dem Abstand d wird grob durch E=V/d beschrieben. Eine höhere Spannung V bei gleichem Abstand d führt direkt zu einer höheren Feldstärke E. Die Feldstärke ist die treibende Kraft für die Ionentransportgeschwindigkeit und die Geschwindigkeit elektrochemischer Reaktionen. Eine Verdopplung der Spannung kann zu einer exponentiellen Beschleunigung der Migrationsprozesse führen, da mehr Ionen schneller bewegt werden und die Aktivierungsenergie für die Reaktionen leichter überwunden wird.

Darüber hinaus treten bei hohen Feldstärken und kleinen Abständen lokale Effekte auf:

  • Konzentration der Feldlinien: An Kanten, Spitzen oder ungleichmäßigen Oberflächenstrukturen (z.B. bei Lötstellen oder unsauberen Leiterbahnen) konzentriert sich die elektrische Feldstärke massiv. Dies schafft lokale Hotspots für elektrochemische Aktivitäten.
  • Teilentladungen (Partial Discharge - PD): Bei hohen Feldstärken in Gas- oder Lufteinschlüssen (z.B. in Spalten unter Bauteilen, in schlecht vergossenen Bereichen oder bei unzureichenden Luft- und Kriechstrecken) kann es zu Teilentladungen kommen. Diese PDs erzeugen aggressive Gase wie Ozon oder Stickoxide und können die Oberfläche des Isolationsmaterials erodieren und karbonisieren, wodurch es leitfähiger und anfälliger für die nachfolgende elektrochemische Migration wird. PDs schaffen somit eine Art Vorbeschädigung, die Korrosion initiiert oder beschleunigt. Teilentladungen können auch erst nach einer längeren Betriebszeit durch die Alterung der Isolationsmaterialien oder im Rahmen des Dentritenwachstums auftreten = Feldausfall.

DC vs. AC: Warum Gleichspannung "gefährlicher" ist

Ein weiterer kritischer Trend ist der vermehrte Einsatz von Gleichspannung (DC) in vielen modernen Leistungselektronikanwendungen (Batteriesysteme, Solaranlagen, HVDC-Übertragung). Für elektrochemische Korrosion ist DC-Spannung generell problematischer als Wechselspannung (AC) gleicher Amplitude.

Unter DC-Spannung besteht eine konstante Polarität. Ionen wandern kontinuierlich und unidirektional von der Anode zur Kathode. Dies ermöglicht das ungestörte Wachstum von Dendriten (ECM) oder Filamenten (CAF) über längere Zeiträume, bis ein leitfähiger Pfad entsteht.

Unter AC-Spannung hingegen kehrt sich die Polarität periodisch um. Dies kann den Migrationsprozess verlangsamen oder sogar teilweise umkehren. Metallionen, die sich auf die Kathode zubewegen, können während der nächsten Halbwelle, wenn diese zur Anode wird, wieder zurückgezogen werden. Zwar kann Korrosion auch unter AC auftreten, insbesondere bei Vorliegen von nicht-flüchtigen Reaktionsprodukten, die an Ort und Stelle verbleiben, aber die Rate des Wachstums leitfähiger Pfade ist unter vergleichbaren Bedingungen (Spannungsamplitude, Feuchtigkeit, Verunreinigung) oft deutlich geringer als unter DC.

Die Kombination aus hohen Spannungen und dem Einsatz von DC stellt somit eine besonders kritische Belastung für die Zuverlässigkeit im Hinblick auf elektrochemische Korrosion dar.

Einflussfaktoren und problematische Geometrie

Neben Spannung und Feuchtigkeit spielen weitere Faktoren eine entscheidende Rolle:

  • Ionische Verunreinigungen: Rückstände aus Fertigungsprozessen (Flussmittel, Reinigungschemikalien), Fingerabdrücke oder Umweltschadstoffe liefern die notwendigen Ionen für den Elektrolyten und beschleunigen die Migration massiv. Die Reinheit der Baugruppe ist daher fundamental.
  • Feuchtigkeit und Gase: Hohe relative Luftfeuchtigkeit liefert das Wasser für den Elektrolyten. Aggressive Gase (z.B. Schwefelverbindungen in Industriegebieten) können ebenfalls die Korrosion beschleunigen. (nur am Rande erwähnt: selbst destilliertes Wasser ist kein ausreichend guter Isolator, denn oberhalb von ~2V setzt Elektrolyse ein mit der Bildung von bindungsfreundlichem Wasserstoff und Sauerstoff)
  • Bauteilgeometrie und Layout: Kleine Abstände zwischen benachbarten Leiterbahnen oder Pads bei hohen Spannungen führen zu sehr hohen Feldstärken. Scharfe Ecken oder unregelmäßige Oberflächen begünstigen Feldkonzentrationen. Durchkontaktierungen (Vias) sind potenzielle Schwachstellen für CAF, insbesondere wenn die Bohrungen nicht sauber ausgeführt sind oder das Harz beim Laminieren nicht perfekt in alle Zwischenräume eindringt. Enge Spalte oder Hohlräume unter Bauteilen können Feuchtigkeit und Verunreinigungen einschließen und das Austrocknen erschweren, wodurch sich lokale Korrosionszellen bilden.

Schutzbeschichtungen (Conformal Coatings)

Der Einsatz von Schutzbeschichtungen (Conformal Coatings) ist eine der wichtigsten Strategien zur Verbesserung der Zuverlässigkeit gegenüber elektrochemischer Korrosion. Diese Beschichtungen bilden eine Schutzbarriere auf der Oberfläche der Leiterplatte und der Bauteile mit dem Ziel:

  • Das Eindringen von Feuchtigkeit und ionischen Verunreinigungen zu verhindern oder zumindest stark zu verlangsamen.
  • Die Entstehung eines zusammenhängenden Elektrolyten zu erschweren.
  • Die Kriechstrecken auf der Oberfläche zu vergrößern (falls die Beschichtung aufgetragen wird, ohne die Abstände zu überbrücken).

Typische Materialien sind Acryl-, Silikon-, Urethan-, Epoxidharze oder Parylen. Die Wahl des Materials hängt von den spezifischen Umweltbedingungen und Anforderungen (Temperaturbereich, chemische Beständigkeit, mechanische Belastung, Anforderungen an die Nacharbeit) ab.

Allerdings sind Schutzbeschichtungen keine absolute Garantie, insbesondere nicht bei hohen Spannungen und Feldstärken über lange Zeiträume.

  • Permeation: Alle organischen Polymere sind in gewissem Maße permeabel für Wasserdampf und Gase. Unter einem starken elektrischen Feld kann die Migration von Ionen durch die Beschichtung oder an den Grenzflächen beschleunigt werden.
  • Haftung und Benetzung: Eine unzureichende Haftung der Beschichtung auf der Oberfläche oder eine schlechte Benetzung (z.B. aufgrund von Verunreinigungen) kann zur Bildung von Kapillaren oder Hohlräumen führen, durch die Feuchtigkeit und Ionen eindringen können.
  • Lufteinschlüsse und Pinholes: Fehler im Auftragsprozess können zu Lufteinschlüssen unter der Beschichtung oder zu mikroskopisch kleinen Fehlstellen (Pinholes) in der Beschichtung selbst führen. Diese Stellen sind massive Schwachstellen, an denen Korrosion leicht initiieren kann.
  • Abbau der Beschichtung: Unter hoher elektrischer Feldstärke, hoher Temperatur und Feuchtigkeit kann die Beschichtung selbst degradieren (z.B. durch Hydrolyse oder Teilentladungen an der Grenzfläche), was ihre Schutzfunktion beeinträchtigt.

Es ist daher eine sorgfältige Auswahl des Materials und des Applikationsprozesses entscheidend, um maximale Barrierewirkung und Haftung zu erreichen.

Beschleunigte Degradation unter kombinierten Belastungen

Das Hauptproblem bei allen Alterungs- und Degradationsprozess ist, dass die genannten Faktoren (hohe Spannung/Feldstärke, DC-Betrieb, Feuchtigkeit, Verunreinigung, ungünstige Geometrie, aber auch Wärme, Frequenz oder mechanische Belastungen) sich nicht linear, sondern oft synergistisch auf die Degradationsgeschwindigkeit auswirken. Eine leichte Erhöhung der Feuchtigkeit und der Spannung gleichzeitig kann zu einer weitaus höheren Ausfallrate führen, als die Summe der Effekte bei separater Betrachtung erwarten ließe. Ähnlich verhält es sich bei einer Kombination aus Wärmealterung und ECM: Schrumpf durch Masseverlust oder Versprödung führen zu Mikrorissen, die dem Elektrolyt das Eindringen in das Material erleichtern und zu einer Beschleunigung des Metallionentransportes beitragen.

Dieses beschleunigte Degradieren erfordert angepasste Testmethoden und Qualifikationsverfahren. Standardtests (wie 85°C / 85% relative Luftfeuchtigkeit mit angelegter Spannung - "85/85-Bias Test" oder für schneller Ergebnisse der Pressure-Cooker-Test) müssen möglicherweise durch Tests bei höheren Spannungen, unter realitätsnahen DC-Bedingungen und mit zyklischen Temperatur- und Feuchtigkeitsbelastungen ergänzt werden (Lebensdauertest), um das Verhalten der Baugruppen unter Feldbedingungen zuverlässig vorhersagen zu können.

Was gilt es also zu beachten?

Elektrochemische Korrosion, manifestiert als ECM, CAF und AMP, stellt eine wachsende „Bedrohung“ für die Zuverlässigkeit und Lebensdauer von Leistungselektronik dar. Die Entwicklung hin zu höheren Betriebsspannungen und der vermehrte Einsatz von Gleichspannung verschärfen diese Problematik signifikant, da sie die treibenden Kräfte für Ionenmigration und elektrochemische Reaktionen erhöhen.

Die Bewältigung dieser Herausforderung erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der über die traditionelle thermische und mechanische Auslegung hinausgeht:

  • Optimierung der Bauteilgeometrie zur Maximierung von Luft- und Kriechstrecken und Minimierung von Feldkonzentrationen.
  • Verwendung von Substratmaterialien mit hoher CAF-Beständigkeit und Lötstopplacken mit guten Isolationseigenschaften und Haftung.
  • Strikte Sauberkeit zur Minimierung ionischer Rückstände, optimierte Lötprozesse und sorgfältige Bearbeitung von Durchkontaktierungen.
  • Auswahl und Applikation geeigneter Beschichtungsmaterialien unter strenger Prozesskontrolle zur Gewährleistung einer homogenen, fehlerfreien Barriere mit guter Haftung.
  • Durchführung von Zuverlässigkeitstests unter kombinierten, repräsentativen elektrischen, thermischen und feuchtebedingten Belastungen, die die Feldbedingungen widerspiegeln.

Mit einem guten Verständnis der elektrochemischen Prozesse und durch die konsequente Implementierung von präventiven Maßnahmen in Design, Materialauswahl und Fertigungsprozessen kann die erforderliche Zuverlässigkeit moderner Leistungselektronik-Systeme auch bei heute schon oft üblichen höheren Spannungen bis 1.500 VDC und hohen Leistungsdichten sichergestellt werden.