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Man muß nicht alles wissen! Nur, wo es steht!

Deindustrialisierung – Dämon oder eine realistische Gefahr

Europa ist die erste Region weltweit, die eine Bepreisung von Gütern in Bezug auf ihre Klimabilanz beschlossen hat. Der CO2-Grenzausgleich wird auch als Klimazoll bezeichnet. Doch ist das ein kluger Schritt?

Grundsätzlich ist die Idee, eine Emission mit einem Preis zu versehen, vernünftig: Wer verschmutzt soll dafür auch zahlen. Durch das Emissionshandelssystem (EHS) werden seit 2021 Unternehmen mit einem relevanten CO2-Ausstoß gezwungen, Zertifikate zu erwerben. Diese Zertifikate (Verschmutzungsrechte) kosteten zunächst 25 EUR pro Tonne CO2 -Emission und sollen schrittweise auf etwa 65 EUR/to erhöht werden. Das bedeutet für viele energieintensive Unternehmen eine zunehmende Belastung und eine reduzierte Konkurrenzfähigkeit. Um die davon betroffenen Wirtschaftsbereiche zu schützen wurde nun der CO2-Grenzausgleich geschaffen. Er soll die Differenz zwischen den Produktionskosten in Ländern ohne CO2-Bepreisung und denen im Euro-Raum ausgleichen.

Doch Europa ist mit seinen rund 445 Millionen Menschen eine vergleichbar kleine Insel im Meer der Nation. Alleine China hat mehr als die dreifache Einwohnerzahl und produziert schon heute etwa genauso viel CO2-Equvalent wie alle europäischen Staaten zusammen. Zählt man nun noch Indien, Afrika und die asiatischen Staaten und deren wirtschaftliches Wachstum in den nächsten Jahren hinzu, wird klar, dass die Vorreiterrolle Europas auch nach hinten los gehen kann.

Das Erdöl und das Erdgas, das in der EU aufgrund der zunehmend unattraktiv werdenden Kosten und schärferen Regelungen durch (teure) grüne Energie ersetzt werden muß, wird jedoch nicht im Erdboden bleiben. Nehmen es die europäischen Industrienationen nicht im bisherigen Umfang von den Erdöl-produzierenden Ländern ab, freuen sich andere Staaten über die, dann billiger gewordene, Energie und stützen damit ihren wirtschaftlichen Aufschwung. Denn den Tankern ist es im Prinzip egal, ob sie europäische Häfen ansteuern oder solche in China, Indien oder von anderen Verbrauchern.

Das führt schlußendlich dazu, dass Europa und insbesondere Deutschland zwar eine Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz einnehmen, jedoch dadurch auch ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Ein Klimazoll schützt davor nicht. Der Kapitalismus ist darauf ausgelegt, eine Gewinnmaximierung zu erzielen. Herrscht eine zu deutliche Benachteiligung bei den Energie- und Umweltkosten, werden die Unternehmen als erstes ins Ausland abwandern, die den größten Nutzen davon haben. Sie sind die ersten einer langen Reihe folgender Unternehmen, die dann an weniger ambitionierten Standorten produzieren werden. Es bleibt also am Ende ein Nullsummenspiel bezogen auf die Gesamtemission der Menschheit – es werden nur die Standort der Emittenten verlagert.

Neben anderen schlägt daher der Deutsche Bundeskanzler so etwas wie ein „Klimaclub“ vor. Eine Vereinigung von Nationen, die sich gleiche Auflagen geben und dadurch Wettbewerbsverzerrung vermeiden. Allerdings muß ein solcher Klimaclub eine ausreichende Größe und Bedeutung haben. Denn nur dann werden Länder mit lascheren Klimazielen es sich überlegen, ob sie ausserhalb dieses Kreises der „grünen“ Nationen bleiben wollen. Oder mit anderen Worten: nicht nur Europa und auch nicht nur zusammen mit den USA (447 Mio Einwohner plus 332 Mio Einwohner) können erfolgreich einen solchen Klimaclub bilden, sondern erst zusammen mit China (und Indien) entsteht ein ausreichender Druck, sich den strengeren Klimazielen zu unterwerfen.

Deutschland ist inzwischen das einzige Land weltweit, dass am Atomausstieg festhält. Dass diese Technologie keine Dauerlösung sein kann, ist klar. Aber während selbst in Europäischen Nachbarstaat, die zuvor schon den Ausstieg proklamiert hatten, nun neue Reaktoren gebaut werden, beharrt Deutschland auf einer zügigen Beendigung der Nutzung fossiler Energieträger und des Atomstroms. Doch so bedauerlich es ist: Der Aufbau einer Versorgungsstruktur zum Ausgleich der in den nächsten zwei Jahrzehnten wegfallenden fossilen Energieträger ist stellenweise noch gar nicht Massenmarkt-tauglich entwickelt. Natürlich gibt es bereits jahrzehntelange Erfahrungen mit dem Bau von Windkraft- und Solarkraftanlagen, aber das Thema Speicherung ist im Moment noch ungelöst. Und damit ist nicht einmal der tägliche Ausgleich der Schwankungen zwischen Energiebedarf und Energieproduktion aus regenerativen Quellen gemeint, sondern der saisonale Ausgleich zwischen den Sommer- und den Wintermonaten. Die zur Abdeckung der Dunkelpause im Winter notwendige Energiespeichermenge übersteigt jegliche derzeit existierenden Speicher in Europa um ein Vielfaches. Nur auf Deutschland bezogen sind die Speichermöglichkeiten (als einzige überhaupt nennenswert: Pumpspeicherkraftwerke) sogar völlig unzureichend.

Zwar wird der Wasserstoff (und Derivate daraus wie Ammoniak oder Methanol) als Speichermedium hoch gehandelt. Doch bis die dafür notwendige Infrastruktur vorhanden ist und die dafür notwendigen Investitionen sich nicht mehr ganz erheblich auf den Preis pro Energieeinheit niederschlagen, vergehen bei allen Bemühungen um Beschleunigung noch viele Jahre. Ein erfreulicher Aspekt dabei ist allerdings, dass bereits über 95% des Erdgasversorgungsnetzwerks in Europa auch geeignet ist für den Transport von 100% Wasserstoff - zumindest von dieser Seite sind keine milliardenschweren Investitionen zu erwarten.

In der Zwischenzeit, bis eine stabile, bezahlbare Alternative zu fossilen Energieträgern existiert, gänzlich auf Steinkohle, Erdgas und Erdöl (und Atomstrom) verzichten zu wollen, würde die Wettbewerbsfähigkeit der westlichen Industrienationen soweit schwächen, dass die angestrebte Vorreiterrolle in der Klimapolitik tatsächlich zu einer Deindustrialisierung führen würde. Aus dieser Position heraus kann man keine Vorreiterrolle mehr übernehmen.

Keine Frage, auf Dauer kann es nicht sein, dass man angesichts der enormen Herausforderungen so weiter macht wie bisher. Eine dauerhafte und erhebliche Erhöhung der Durchschnittstemperaturen hätte ganz andere, noch gravierendere Folgen für die Weltgemeinschaft (Stichwort Fluchtbewegungen). Darum ist entschlossenes und zügiges Handeln von Nöten. Aber nicht ohne Sinn und Verstand und als Alleingang. Ein ausreichend großer „Klimaclub“ ist vermutlich die größte Chance, wirtschaftliche Prosperität für alle mit einem drastischen Umbau der Weltwirtschaft zu verbinden. Denn nichts anderes ist der Umstieg von fossiler Energie auf regenerative Lösungen: eine gewaltige wirtschaftliche Anstrengung, die nur gemeinsam gelingen kann und nicht gegeneinander.

© Gerald Friederici 01/23
Kohlendioxid-Grenzausgleichsmechanismus: schrittweise Einführung der Bepreisung von Produkten, bei denen die Hersteller im Produktionsland keine Abgaben für die Emission klimaschädlicher Gasen zu zahlen haben.