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Man muß nicht alles wissen! Nur, wo es steht!

Gleichstrom für Fernübertragungen

Das über ein Jahrhundert gewachsene Stromnetz in Europa basierte auf großen, zentralen Kraftwerken und einer Vielzahl von Verbrauchern. Die Leitungsverluste waren aufgrund der vielen Kraftwerke und kurzen Leitungswege kein großes Problem. Durch die Energiewende ändert sich dies: Dezentrale Energieerzeugung und längere Übertragungsstrecken erfordern neue Lösungen

Das bekannteste Beispiel für das Dilemma im Rahmen der Energietransformation in Richtung „All Electrical Society“ ist die Gewinnung regenerativen Windstroms im Norden und dem Energiebedarf im Süden. Eine Energieübertragung über so weite Strecken mittels Wechselspannung ist verlustreicher wie mit einer HGÜ (Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung)-Leitung.

Ob Wechselstrom oder Gleichstrom: In elektrischen Leitungen treten aufgrund des ohmschen Widerstands stets Verluste auf. Bei Wechselstromsystemen kommen zusätzliche Verluste durch die induktive und kapazitive Natur der Leitung hinzu. Die Leitungen wirken wie eine Kombination aus Spule und Kondensator. Die periodische Änderung des elektrischen Feldes führt zu einer Ladung und Entladung dieser virtuellen Kondensatoren bzw. der induktiven Last. Dieser sogenannte Blindstrom fließt zwar, überträgt aber keine Wirkleistung und verursacht zusätzliche ohmsche Verluste in den Leitungen. Insbesondere bei langen Übertragungsleitungen wird dieser Effekt signifikant und bei Erdleitungen verstärkt sich dieser Effekt sogar noch erheblich, da die dielektrischen Eigenschaften des Bodens die Leitungskapazität noch erhöht.

Eine weitere Verlustquelle entsteht durch den Skineffekt. Durch die ständig wechselnde Polarität des Wechselstroms entstehen im Leiter Wirbelströme. Diese bauen ihrerseits Magnetfelder auf und verdrängen den Strom aus dem Leiterinneren. Dieser Effekt ist direkt abhängig von der Frequenz der Wechselspannung. Obwohl 50 Hz eine vergleichsweise niedrige Frequenz ist, ist der Effekt bei den in Frage kommenden Leistungen auf Fernnetzen spürbar.

Ein Daumenwert besagt, dass pro 1.000 km Übertragungsweg (Freileitung) im Wechselstromnetz mit Verlusten von 6-10% gerechnet werden muss. Dahingegen verlieren Hochspannungsgleichstromnetze mit ihren reinen ohmschen Verlusten nur etwa 4 % (bei Nutzung von Höchstspannungstechnik von 800 kV und mehr sind die Verluste sogar noch geringer).

Erdkabel, die mit Wechselstrom betrieben werden, sind aufgrund der hohen dielektrischen Verluste (εr) sogar auf Streckenlängen von unter 100 km begrenzt. In diesem Fall sind HGÜ-Strecken sogar alternativlos.

Ein weiterer Vorteil ist die verringerte Anzahl an benötigten elektrischen Leitern bei Gleichspannungsübertragung (bipolare Stromübertragung). Auch ein Vorteil ergibt sich durch  die schnellere Regelbarkeit der HGÜ-Übertragung (elektronische Stromrichter), wodurch solche Systeme zusätzlich zur Netzstabilität beitragen.    

Die Gleichstrom-Übertragung bietet nicht nur für großflächige Übertragungsnetze Vorteile. Auch in regionalen Netzen ermöglichen elektronische Leistungswandler (Gleichrichter und Wechselrichter) eine flexible und verlustarme Kopplung. Durch die galvanische Trennung können Netze mit unterschiedlichen Frequenzen oder Spannungsniveaus verbunden werden. Insbesondere für die Integration fluktuierender Energiequellen wie Windkraftanlagen ist diese Technologie von großer Bedeutung. Der Generatorstrom wird zunächst gleichgerichtet und dann über einen Wechselrichter netzsynchron eingespeist, wodurch die Drehzahlschwankungen des Generators ausgeglichen werden. 

Konvertergesteuerte Gleichstrom-Netze haben zudem den Vorteil, die Netzstabilität des Wechselspannungsnetzes stabilisieren zu können und sind schwarzstartfähig. Sie können also nach einem großflächigen Stromausfall dazu beitragen, dass Wechselstromnetz wieder neu zu starten.

Ein vorübergehender Nachteil von Gleichstrom-Übertragungsstrecken soll aber nicht unerwähnt bleiben: Die Übertragung von elektrischer Energie erfordert bei Gleichstromübertragung den Einsatz von Stromrichtern, um Wechsel- in Gleichstrom und umgekehrt umzuwandeln. Im Vergleich zu Transformatoren, die Wechselstrom effizient und kostengünstig umwandeln können, sind Stromrichter deutlich kostenintensiver. Fortschritte in der Leistungselektronik, insbesondere die Verwendung von Siliziumcarbid, ermöglichen jedoch kompaktere und verlustärmere Stromrichter. Auch die häufig genutze Leitungsverlegung als Erd- oder Seekabel ist erheblich teurer gegenüber Strommasten. Die höheren initialen Investitionskosten werden langfristig durch die Einsparungen bei den Betriebs- und Energietransportkosten kompensiert. Und Erdkabel fallen erheblich weniger ins Auge wie lange Reihen von  Hochspannungsmasten. 

Dort, wo bereits Strommasten vorhanden sind, können mit vergleichbar geringem Aufwand zwei der Leitungen in eine  HGÜ-Leitung umgewidmet werden. Der Vorteil ist klar: eine große  "Reichweite" ohne sehr hohe Initialkosten. Ein Beispiel ist Ultranet von Amprion. Bis 2027 soll diese HGÜ-Leitung Strom von den Windparks in der Nordsee über bestehende Trassen bis nach Philippsburg (ehemaliges  Atomkraftwerk mit entsprechender Netzanbindung) leiten.    

Auf der technischen Seite ist das Schalten von Hochspannungsgleichstrom eine noch nicht vollständig gelöste Herausforderung (Lichtbogenlöschung). Bislang gibt es daher nur Punkt-zu-Punkt Verbindungen ohne Abzweige.

Viel diskutiert wird auch der Einfluss des starken, statischen Magnetfelds einer HGÜ-Trasse auf den Menschen und die Umwelt. Ähnlich wie bei den elektrischen Feldern unter Höchstspannungsfreileitungen von einem Megavolt und mehr oder dem Einfluss der Sendeleistung von Mobiltelefonen auf die Gesundheit des Nutzers sind bereits zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden. Die Gesundheit von Menschen wird jedoch von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, wie beispielsweise genetischen Veranlagungen, Lebensstil und Umweltfaktoren. Es ist daher schwierig, den Einfluss einzelner Faktoren, wie elektromagnetische Felder, eindeutig nachzuweisen. Bisher gibt es keine überzeugenden Belege für negative Auswirkungen bei den (geringen) Feldstärken, die in der Nähe von HGÜ-Leitungen auftreten, da aufgrund der bestehenden Unsicherheiten das Vorsorgeprinzip angewandt wird. Dies bedeutet, dass technische Maßnahmen ergriffen werden, um die Exposition der Bevölkerung so gering wie möglich zu halten.

Gleichspannungsübertragung ist keine neue Erfindung. Die erste kommerzielle HGÜ-Leitung war das Lyon–Moûtiers-System aus dem Jahre 1906. Es versorgte bis 1936 die elektrische Straßenbahn in Lyon mit Strom aus dem 180 km entfernten Wasserwerk in Moutiers. Was damals ein Exot war, wird in Zeiten zunehmender Elektrifizierung eine immer bedeutendere Rolle spielen. Denn regenerativ gewonnener Strom wird dort erzeugt, wo es besonders effizient ist: Windstrom im Norden, Solarstrom im Süden und Strom aus Wasserkraft in Ländern mit der entsprechenden Geländetopologie (Österreich, Schweiz, Norwegen).

HGÜ-Leitungen verbinden schon heute z.B. Norwegen und Deutschland (NordLink, über 500 km Seekabel). Der niederländische Übertragungsnetzbetreiber TenneT wird mit "SuedLink" den größten Netzausbau Deutschlands in den nächsten Jahren umsetzen. Die 700 km lange Hochspannungsgleichstromstrecke wird bei ±525 kV bis zu 2 GW übertragen können (die Leistung von zwei Atomkraftwerken). Ziel ist es im wesentlichen, Windstrom aus dem Norden und Solarstrom aus dem Süden verlustarm zu übertragen. Weitere HGÜ-Leitungen sind SuedOstLink, Estlink (Finland), Sydvästlänken (Schweden), IFA2 (verbindet England und Frankreich per Seekabel) und Ultranet (2 GW, Emden-Philippsburg). Weltweit ist die Liste inzwischen schon recht lang.    

Die Herausforderung für die Zukunft ist, eine zunehmende Menge nachhaltig gewonnener elektrischer Energie zu den Verbrauchern zu transportieren – verlustarm, zuverlässig, ökologisch schonend - Hochspannungsgleichstromleitungen tragen dazu wesentlich bei.


@ Gerald Friederici 07/24