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Die Vision der energetischen Eigenversorgung Deutschlands durch regenerative Quellen

Die Annahme, dass Deutschland sich in allen wesentlichen Bereichen – von der Stromversorgung über die Wärme bis hin zu Verkehr und Industrie – vollständig und nachhaltig mit im eigenen Land erzeugter Energie versorgen kann, mag auf den ersten Blick utopisch erscheinen. Angesichts des heutigen hohen Verbrauchs fossiler Brennstoffe und der Abhängigkeit von Importen scheint eine autarke, rein regenerative Versorgung eine enorme Herausforderung. Doch der Gedanke basiert auf einem fundamentalen physikalischen Umstand, der nicht die einfache Substitution fossiler Kraftwerke beinhaltet, sondern eine umfassende Sektorkopplung und einen daraus resultierenden massiven Effizienzgewinn beinhaltet, was den Gesamtenergiebedarf drastisch senken.

Im Folgenden versuche ich einen Einblick in diesen Gedankengang zu geben, die zugrundeliegenden Mechanismen zu erläutern, den erforderlichen Ausbau der Infrastruktur zu beleuchten und die notwendigen Speicherlösungen, einschließlich des europäischen Stromnetzes, anzureißen.

Das Kernkonzept: Sektorkopplung und der paradoxe erscheinende Effizienzgewinn 

Die Vision einer autarken, regenerativen Energieversorgung beginnt mit einem scheinbaren Widerspruch: Der Strombedarf in Deutschland wird in einem solchen Szenario massiv ansteigen, während gleichzeitig der gesamte Primärenergiebedarf um die Hälfte oder mehr sinken würde. Dieses "Phänomen" ist der zentrale Hebel der Energiewende und lässt sich durch den fundamentalen Unterschied zwischen Primär- und Endenergie sowie dem Wirkungsgrad der Umwandlungsprozesse erklären.

  • Primärenergie ist die Energie, die in den natürlichen Quellen (Kohle, Gas, Öl, Wind, Sonne) vorhanden ist.
  • Endenergie ist die Energie, die der Endverbraucher tatsächlich nutzt (z.B. Strom aus der Steckdose, Benzin im Tank für den Antrieb).

Heute wird der größte Teil des Gesamtenergiebedarfs in Deutschland noch immer aus fossilen Quellen wie Kohle, Gas und Öl gewonnen. Die Umwandlung dieser Primärenergien in nutzbare Endenergie – sei es Strom, Wärme oder Bewegungsenergie – ist jedoch mit erheblichen Verlusten verbunden, die primär in Form von Abwärme in die Umgebung abgegeben werden.

  • Verkehr: Selbst ein moderner Verbrennungsmotor in Serienfahrzeugen erreicht maximal einen Wirkungsgrad von 35-40%. Von der im Benzin oder Diesel gespeicherten Energie wird also der größtere Teil als Wärme verschwendet und nur ein kleiner Teil treibt das Fahrzeug tatsächlich an. Ein Elektromotor hingegen erreicht einen Wirkungsgrad von über 90 %. Der Übergang zur Elektromobilität eliminiert somit die massiven Umwandlungsverluste des Verbrennungsmotors. Bei 44 Millionen Fahrzeugen alleine in Deutschland ein erheblicher Hebel.
  • Wärmeerzeugung: Herkömmliche Gas- und Ölheizungen verbrennen den Energieträger, um direkt Wärme zu erzeugen. Der Wirkungsgrad liegt hier zwar höher (bis zu 95 % bei Brennwerttechnik, die aber nicht flächendeckend verbaut ist), aber eine elektrische Wärmepumpe erzeugt für eine eingesetzte Kilowattstunde Strom drei oder mehr Kilowattstunden Wärme (COP), hat also einen Wirkungsgrad der eingesetzten Energie von 300% und mehr im Vergleich durch Nutzung der natürlich vorhandenen Umgebungswärme.
  • Stromerzeugung: In einem Kohle- oder Gaskraftwerk wird ebenfalls ein großer Teil der Primärenergie als Abwärme freigesetzt, bevor der Strom erzeugt wird. Der Wirkungsgrad liegt bei maximal 45–60 %. Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen hingegen erzeugen Strom direkt und ohne den ineffizienten Verbrennungsschritt zur Erzeugung von Dampf, der dann eine Turbine antreibt.

Durch die konsequente Elektrifizierung der Sektoren und die Nutzung von Strom, der direkt aus regenerativen Quellen stammt, werden die enormen Umwandlungsverluste der fossilen Ära vermieden. Eine vollständige Umstellung der Energieerzeugung und der Verbraucher auf elektrische Energie aus regenerativen Quellen würde also zu einem deutlichen Anstieg des Strombedarfs führen, aber zu einer massiven Senkung des gesamten Primärenergiebedarfs in Deutschland. Der Effizienzgewinn durch den Wegfall von Verbrennungsprozessen ist der entscheidende Hebel, der diese Reduktion ermöglicht.

Der BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) geht in einer Studie davon aus, dass der Stromverbrauch in Deutschland bis 2030 von aktuell rund 510 TWh auf rund 700 TWh (und später bis 2045 über 1000 TWh) steigen wird. Dieser Anstieg resultiert aus der zunehmenden Elektrifizierung durch Wärmepumpen, Elektromobilität und Industrieanwendungen. Gleichzeitig würde der Bedarf an Gas, Erdöl und Kohle bis 2030 um über 50% zurückgehen.

Der Ausbaubedarf der regenerativen Erzeugung und der Infrastruktur 

Eine vollständige Eigenversorgung (wie weit dieses Ziel als Teil einer Staatengemeinschaft sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt) erfordert einen beispiellosen Ausbau der Erzeugungskapazitäten, der Infrastruktur und der Speichertechnologien. Eine seit einigen Jahren bekannte Schlußfolgerung daraus: Die bisherigen Ausbauraten müssen in den meisten Bereichen vervielfacht werden.

1. Erneuerbare Energien:

  • Windkraft: Windenergie, sowohl an Land (Onshore) als auch auf See (Offshore), ist der wichtigste Stromlieferant in einem zukünftigen Energiesystem. Um den stark erhöhten Strombedarf zu decken, müsste die installierte Leistung von heute rund 60 GW auf über 150 GW an Land bis 2045 und von heute 8 GW auf über 70 GW auf See bis Mitte des Jahrhunderts gesteigert werden. Dies erfordert den Bau von zahlreicher neuer Windkraftanlagen und eine massive Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. Beachten sollte man, dass durch die stark erhöhte Leistung moderner Anlagen bis zu 15 MW/Anlage die Anzahl an Windkraftanlagen nicht zwangsweise massiv steigen muß. Bei Ersatz (Repowering) der derzeit rund 30.000 Windkraftanlagen durch moderne 6 MW- Anlagen wäre – rein theoretisch, da z.B. nicht überall ausreichend Wind für so große Anlagen vorhanden ist – sogar eine Reduktion möglich.
  • Photovoltaik (PV): Solarenergie würde als zweiter tragender Pfeiler die Stromversorgung insbesondere im Sommer sichern. Die installierte Leistung von heute rund 80 GW müsste auf 400 GW oder mehr anwachsen. Dies beinhaltet die vollständige Nutzung geeigneter Dachflächen sowie den Ausbau von Freiflächenanlagen.
  • Biomasse, Wasserkraft und Geothermie: Diese Quellen sind wichtig, um die Grundlast zu sichern und das System zu stabilisieren, ihr Ausbaupotenzial ist jedoch begrenzt.

2. Infrastruktur und Speichersysteme:

Die größte Herausforderung der regenerativen Versorgung ist bekanntermaßen die Volatilität von Wind und Sonne. Um Phasen geringer Erzeugung (Dunkelflauten) zu überbrücken und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sind intelligente Netze (Smart Grid) und vielfältige Speicherlösungen unerlässlich.

  • Stromnetze: Die Netze müssen massiv ausgebaut und digitalisiert werden, um den Strom von den Erzeugungszentren (Wind auf See, Sonne im Süden) zu den Verbrauchszentren (Industrie) zu transportieren. Eine regionale und europäische Vernetzung durch Hochspannungsgleichstromnetze trägt zum Ausgleich von Stromerzeugungsschwankungen bei.
  • Kurzzeitspeicher: Batteriespeicher, sowohl im Heim, durch Vehicle-to-Grid als auch im industriellen Maßstab (MW-BESS), sind essenziell, um die täglichen Schwankungen in der Stromproduktion und im Verbrauch auszugleichen. Sie puffern kurzfristige Überschüsse ab und können Lastspitzen glätten.
  • Langzeitspeicher: Für längere Perioden mit wenig Wind und Sonne sind andere Lösungen erforderlich. Eine Möglichkeit ist Power-to-Gas: Grüner Wasserstoff, der mittels Elektrolyse aus überschüssigem Wind- und Solarstrom erzeugt wird (Power-to-Gas), kann als chemischer Langzeitspeicher dienen.
  • Pumpspeicherkraftwerke, Redox-Flow-Batterien: Zusammen mit inzwischen im industriellen Großmaßstab verfügbaren Redox-Flow-Batterien sind die vorhandenen Pumpspeicherkraftwerke weitere Bausteine zur Grundlastsicherung und Energiespeicherung.
  • Das europäische Stromnetz als "großer Speicher": Das wichtigste und größte Speichersystem ist die intelligente Vernetzung mit den europäischen Nachbarn. Das europäische Stromnetz ermöglicht einen Ausgleich der zeitlichen und räumlichen Unterschiede bei der regenerativen Erzeugung. Wenn in Norddeutschland starker Wind weht, kann der Überschuss nach Süden oder in andere Länder mit weniger Erzeugung exportiert werden. Im Gegenzug kann Deutschland im Sommer Solarstrom aus Spanien oder im Winter Windkraft und Wasserkraft (Norwegen) aus den skandinavischen Ländern importieren. Die physikalisch unterschiedlichen Wetterzonen Europas agieren so als eine Art virtueller Speicher, der die Versorgungssicherheit erhöht und den Bedarf an teuren nationalen Speichersystemen verringert. Für diesen Ausgleich ist der Ausbau des Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsnetzes (HGÜ Netz) eine wichtige Aufgabe, die von den Netzbetreibern voran getrieben und politisch flankiert werden muß (strategische Bedeutung für die Autonomie Europas).

Beispielhafte Berechnung: Der Flächenbedarf der Solarenergie im notwendigen Ausbau 

Ein oft geäußerter Kritikpunkt an einer vollständigen Energiewende ist der hohe Flächenbedarf. Am Beispiel der Photovoltaik lässt sich jedoch zeigen, dass dieser Bedarf in einem überschaubaren Rahmen bleibt. Angenommen, Deutschland strebt an, bis zum Jahr 2045 eine PV-Kapazität von 400 GW zu erreichen. Ein realistisches Szenario ist, dass ein Großteil dieser Leistung auf bereits versiegelten Flächen wie Dächern von Privathäusern, Unternehmen und Lagerhallen installiert wird. Schätzungen zufolge könnte dies rund die Hälfte der Zielkapazität ausmachen, also 200 GW. Die restlichen 200 GW müssten durch Freiflächenanlagen realisiert werden.

  • Berechnung des Flächenbedarfs: Eine typische Freiflächen-PV-Anlage benötigt etwa einen Hektar Fläche pro Megawatt (MW) installierter Leistung. Erforderliche Freiflächenleistung: 200 GW entspricht also 200.000 Hektar. Die Gesamtfläche Deutschlands beträgt :  35,7 Millionen Hektar. Der Anteil an der Gesamtfläche Deutschlands für diese zusätzlichen Freiflächenanlage bis 2045 würde etwa 5,6 Promille betragen (oder etwa 4x die Fläche des Bodensees)

Dieser Flächenbedarf von rund 0,56% ist gering, insbesondere wenn man bedenkt, dass Freiflächenanlagen oft auf landwirtschaftlich wenig ertragreichen Böden oder entlang von Infrastruktur wie Autobahnen und Bahndämmen errichtet werden. Zudem bieten Konzepte wie die Agri-Photovoltaik die Möglichkeit, die Landwirtschaft und die Stromerzeugung auf derselben Fläche zu kombinieren.

Energetische Eigenversorgung dank Effizienzgewinn 

Eine vollständige Versorgung Deutschlands auf Basis regenerativer Energien ist keine Utopie, sondern ein technisch und physikalisch machbares Ziel. Die zentrale Prämisse ist der enorme Effizienzgewinn, der durch die Sektorkopplung und die Ablösung ineffizienter Verbrennungsprozesse erreicht wird. Dieser Effizienzsprung macht es erst möglich, den dann bestehenden Energiebedarf mit den heimischen Ressourcen Wind und Sonne zu decken.

Der Weg dorthin enthält durchaus beachtliche Hindernisse und Stolperstellen:

  • Die massiven Investitionen in neue Erzeugungsanlagen, Speicher und Netze unter Beibehaltung der Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland (Europa).
  • Der erhebliche politische und bürokratische Aufwand, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen und aufkommende neue Technologien schneller zu adaptieren.
  • Die Akzeptanz der Bevölkerung für den Ausbau von Windkraft und Stromtrassen.
  • Die Entwicklung und Skalierung von Technologien wie grünem Wasserstoff Redox-Flow und weitere Teillösungen.

Trotz dieser Hürden bietet die energetische Transformation immense Chancen. Eine erfolgreiche Energiewende würde nicht nur zur Klimaneutralität führen, sondern auch die Abhängigkeit von internationalen Energieimporten (siehe aktueller „Big Deal“ mit den USA) beenden, die Versorgungssicherheit erhöhen, die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft stärken und langfristig zu stabilen und wettbewerbsfähigen Energiepreisen beitragen. Es ist ein Jahrhundertprojekt, das Weitsicht, Entschlossenheit und eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung erfordert, um die Vision in die Realität umzusetzen.

Hoffen wir, dass nicht auf allen Ebenen nur in Quartalszahlen und in 4-Jahres-Perioden gedacht wird!

 August 2025